Schläge gegen den Schlag

Financial Times Deutschland - 15. Juli 2005

Jedes Jahr erleiden 160 000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall – durch Golf finden sie aus der Isolation heraus

Tick“ sagt Hans und holt aus. „Tock“ sagt Hans und schwingt. Gerade fliegt der Ball und sehr hoch. Jetzt ruht der Schläger hinter der Schulter, die rechte Hand krallt sich in den extradicken, weichen Griff. So fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Es ist die schwache Hand, Hans spürt sie nicht. Sie ist taub. So taub wie das rechte Bein und der rechte Fuß. Dabei war Hans früher Rechtshänder. In seinem ersten Leben.
Seit zwei Jahren spielt Hans Wittstock Golf. Doch in Wirklichkeit fiel die Vorentscheidung für den Sport viel früher: in der Nacht zum 25. April des Jahres 1997, einem Freitag.
In dieser Nacht weckt der Kraftfahrzeugmechaniker seine Frau, weil er plötzlich nicht mehr sprechen kann. Es ist sein erster Schlaganfall. Auslöser ist eine verschlossene Halsschlagader, der eigentliche Grund das viele Rauchen. Am nächsten Tag erleidet der 47-Jährige eine zweite Attacke. Hans verliert sein Sprechvermögen und das Gefühl in seiner rechten Körperhälfte.

Gemeinsam mit dem Ehepartner
Das Sprechen hat er wieder erlernt, manchmal stottert er noch leicht. Die Lähmung im Körper ist geblieben. Seit dem Schlaganfall fühlt er sich so, als würde er ein Etikett mit sich herumtragen, auf dem steht: „behindert“. Eigentlich gibt es nur einen Ort, an dem er es schafft, das Etikett abzulegen, und das ist ausgerechnet der Golfplatz, auf dem die Etikette doch normalerweise eine so große Rolle spielt.
Der Golfplatz heißt Gut Clarenhof und liegt in Frechen, einem Vorort von Köln. Wenn Cheftrainer Winfried Bellinghausen an diesem Nachmittag Hans und die anderen Mitglieder des Projekts „Ein Schlag gegen den Schlag“ zum Training bittet, dann treten Golfer auf die Driving-Range, wie man sie andernorts selten trifft: Viele halten den Körper schief wegen der halbseitigen Lähmungen. Hörgeschädigte sind darunter, Rollstuhlfahrer, Golfer, die nur einen Arm bewegen können.
Die meisten hatten vor ihrem Schlaganfall keine Beziehung zu diesem Sport. Nun schlagen sie den Ball mitunter über 100 Meter weit. Es wird viel gelacht und viel gelobt beim Training von „Winni“ Bellinghausen, der auch ausgebildeter Krankengymnast ist. Insgesamt spielen 75 Teilnehmer im Rahmen des Projekts Golf. Doch nur jeder Zweite von ihnen ist – meist infolge eines Schlaganfalls – behindert. Die anderen sind deren Angehörige.
Das ist die Idee des Projekts: Ein Schlaganfall kommt plötzlich, er reißt die Betroffenen aus ihrem Berufs- und Alltagsleben heraus. Es ist ein Lebensschlag, der oft in die Isolation führt – und aus der sollen sich die Opfer gemeinsam mit dem Ehepartner herausgolfen. Es ist eine Idee, die Barbara Ullrich vor drei Jahren hatte, nachdem sie selbst betroffen war. Nach zwei Gehirnblutungen gründete Ullrich im Jahr 2002 das Projekt. Zunächst fördere Golf die körperliche Genesung der Betroffenen, sagt sie. Wichtiger noch: Das Spiel steigere die Lebensqualität – und zwar von beiden, Betroffenen und Angehörigen.
Zwei Jahre hat Heidi Wittstock gebraucht, um das Trauma des Schlaganfalls ihres Ehemannes Hans zu überwinden. Sie fühlte sich „wie mit-behindert“. Hans konnte nicht mehr arbeiten, und seine Frau hatte nun ein Kind mehr, um das sie sich kümmern musste. Das Schwerste an der neuen Situation war, dass sich durch die Gehirnverletzungen der Charakter von Hans verändert hatte – nicht unbedingt zum Schlechten hin. „Doch den Mann, den ich einst geheiratet hatte, habe ich mit dem Schlaganfall verloren“, sagt Heidi Wittstock.

Hobby und Therapie
Derartige Belastungen seien für viele Beziehungen schwer auszuhalten, sagt Ullrich. Deshalb sei ein gemeinsames Hobby sinnvoll, bei dem beide Partner gleichberechtigt sind und der Behinderte nicht zwangsläufig der Schlechtere ist. Bei dem man nicht gegeneinander, sondern miteinander antritt – wie beim Golf.
Nun gehen Hans und Heidi Wittstock regelmäßig gemeinsam ihrer neuen Leidenschaft nach. Die Idee des Pilotprojekts scheint zu funktionieren. Besonders bei Hans. Seine Unterarme und der Nacken sind tief gebräunt von der Sonne, ständig steht er auf dem Platz. Freitags macht er mit Freunden aus dem Klub die Runde. Dass er dabei als einziger Spieler behindert ist, fällt kaum noch auf, auch wenn er mit dem Holz 5 nur gute 100 Meter weit schlägt. Dafür landen seine Annäherungsschläge aus dem hohen Gras einen Meter neben der Fahne.
Golf ist der ideale Sport für ihn, weil der Ball ruht und Hans selbst entscheiden kann, wann er abschlägt. Bei der Benefiz-Turnierserie „Ein Schlag gegen den Schlag“, das die Stiftung Deutsche Schlaganfall- Hilfe zu Gunsten des Projekts ausrichtet, kam er zuletzt in St. Leon-Rot bei Heidelberg in die Finalrunde.
Seine Konzentrationsfähigkeit habe sich durch das geistig anspruchsvolle Golfspiel enorm gesteigert, sagt Hans. Viele halbseitig gelähmte Spieler fühlen sich nach dem Golf lockerer als vorher. Mediziner berichten von verbesserter Koordination und Rumpfstabilität.
Neulich ist Hans mit der Projektgruppe zum Golfen in die Dolomiten gefahren. Jeden Morgen spielte er mit einem Kumpel noch vor dem Frühstück 18 Löcher Speedgolf. „Das Spiel kann ja süchtig machen“, sagt Ehefrau Heidi. Sie sieht darüber nicht unglücklich aus.

DAS PILOTPROJEKT

Initiative
„Ein Schlag gegen den Schlag“, initiiert von der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe, ist auch im dritten Jahr noch einzigartig in Deutschland: Betroffene sollen über das Golfspiel ihre Muskelkraft, den Gleichgewichtssinn und das Koordinationsvermögen trainieren – gemeinsam mit ihren Angehörigen. 5 € kostet die Trainerstunde auf Gut Clarenhof in Frechen bei Köln.

Therapien
Traditionelle Heilungsmethoden sind Physio- und Ergotherapie sowie die Logopädie.

Trainer
Zwei Sportwissenschaftler, die neben ihrem Golf-Trainerschein fundierte Erfahrung in den Bereichen Krankengymnastik, Behindertensport und Rehabilitation besitzen.

Mediziner
Ein Ärzteteam der Universitätsklinik Köln begleitet das Projekt. Gemeinsam mit Cheftrainer Winfried Bellinghausen arbeiten die Ärzte darauf hin, dass die Krankenkassen Golf als Therapie anerkennen.

Benefiz-Golfturniere
Das Projekt hat bislang schon insgesamt 170 000 € eingespielt. Schirmherr ist der Golfprofi Sven Strüver. Nächste Termine: 16. Juli Gut Clarenhof (Frechen), 20. August Golf Club Treudelberg (Hamburg).

Kontakte
Golfanlage Gut Clarenhof, Tel. 02234/ 94 34 34, www.ppgolf.de, www.konzept-golf.de

Informationen
Turnierserie: www.einschlaggegendenschlag. de. Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe, Tel. 05241/977 00, www.schlaganfall-hilfe.de

von HENDRIK ANKENBRAND
FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND - 15. Juli 2005

© 2023. Alle Rechte vorbehalten.

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte prüfen Sie die Details und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.